Ich war zwölf Jahre alt und fragte damals in der Schule diesen Typen, der mir am
schlausten von allen vorkam, die klassischste aller Fragen: „...und was für
Musik hörst Du?“ Der schlaue Typ antwortete 'progressiven Rock'. Ich wusste
damals zwar nicht, was 'progressiv' beutete aber es musste etwas ziemlich
Schlaues und Wichtiges sein, denn der Typ war ja auch schlau: immerhin rauchte
er bereits, las Bukowski und hatte sich mit einem Kuli das Friedenszeichen auf
den linken Ärmel seines Bundeswehr-Parkers gemalt. Und aus seinem schlauen Mund
hatte das Wort 'progressiv' den Klang von Auflehnung und Verbotenheit. Nach
einiger Zeit wurde mir dann klar, dass 'progressiv' zuallererst die
Unmöglichkeit bedeutete, etwas darüber in der Bravo lesen zu können. Und
'progressiv' lief auch nicht im Radio. Es schien unsichtbar und nur für
Eingeweihte zu existieren. Wer davon Kenntnis hatte, teilte sie nicht mit jedem.
Durch das seltsame Wort 'progressiv' wurden mir dann auch Bravo und Radio sofort
verdächtig. Möglicherweise waren sie nicht wirklich schlau. So stieg meine
Neugier und ich kaufte mir auf Empfehlung des schlauen Typen beim örtlichen ELPI
meine erste schlaue Platte: 'Animals’ von Pink Floyd. Ein Grund, warum Pink
Floyds 'Animals' meine erste richtig wichtige Platte war, lag also darin: sie zu
kennen machte schlau und befreite einen aus der medialen Gefangenschaft von
albernen Jugendmagazinen und ignoranten Massenmedien. Gleichzeitig war die
Platte in sich selbst ein absolutes Geheimnis, ein Geheimnis der Schlauheit –
zumindest für einen Zwölfjährigen in einer westfälischen Kleinstadt, in der
andere Zwölfjährige Bay City Rollers oder Shaun Cassidy hörten und sich
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Tobias (12) aus Hagen ängsigt sich vor Pink Floyds "Animals"-Album |
Pril-Blumen auf ihre Schuletuis klebten. Die Musik auf dieser aufregenden Platte
schien mir vom ersten Hören an völlig unzugänglich, seltsam und neuartig. Sie
war mir nicht nur völlig fremd und blieb es selbst nach mehrmaligem Hören. Die
Musik machte mir auch auf unerklärliche Weise Angst – auch wenn der erste Song
'Pigs On The Wing 1' noch freundlich-folkig daherkommt. Die Musik machte mir
Angst, weil sie nach Ausweglosigkeit, Dunkelheit und Tod klang und mir diese
Gefühle nicht unbedingt vertraut waren. Die Platte formulierte einen
psycho-akustischen Angriff auf meine begrenzte kindliche Dämmer-Welt mit ihrem
mickrigen musikalischen Spektrum. Was soll auch ein siebzehnminütiger Song ohne
Refrain? Was wollten Gesangsstimmen ausdrücken, die im endlosen Echo zu einem
fremdartigen Synthesizer-Akkord im Nichts verhallen während von fern ein
synthetischer Hund bellt? Was bedeutete eine männliche Gesangsstimme, die
plötzlich nahtlos in einen berückenden Synthesizer-Akkord überging, der
seinerseits in einem rastlos-panischen Rhythmus entschwebt? Wer singt hier
überhaupt: Hunde, Menschen, Maschinen? Die Texte waren mit meinen wenigen
Englisch-Brocken nicht zu entschlüsseln. Hinzu kam: auf den unheimlichen
Cover-Fotos gab es überhaupt keine Menschen zu sehen – nur eine riesige Fabrik
(dass es sich um das Londoner Battersea-Kraftwerk, wusste ich natürlich nicht),
überdimensionale fliegende Plastikschweine und Ruinen-Porno, wie er heute noch
bei Detroit-Techno-Anhängern in Mode ist. Wer war aber die Band? Waren es
lebendige Menschen oder vielleicht Außerirdische? Und was bedeuteten die Texte?
Ich blieb ahnungslos aber diese Ahnungslosigkeit hielt nicht nur die ganze
Angelegenheit bis heute interessant! Sprachloses Erstaunen und Ahnungslosigkeit
sind für mich nach wie Wirkungen von Musik, die es erlauben sich aus
unerquicklichen alltäglichen Dämmerzuständen zu lösen und ein wenig schlauer zu
werden – auch wenn ich Bukowski und Armee-Parker nicht mehr ganz so schlau
finde.
Tobias Koth, geboren 1967 in Hagen/W., pilgert seit 1989 mit
seinem Disco-Rucksack durch die Tanzsäle und Bierschänken des Landes. Feste
Unterkünfte standen für ein paar Jahre in Bochum (Planet) und in Essen (Rote
Liebe). Zur Zeit erholen sich seine müden Glieder in der Bochumer Goldkante.
Hier lässt er Liedgut aus Afrika, Brasilien und Nordamerika in den gestirnten
Abendhimmel verströmen. Wenn es die Kräfte zulassen, gibt es kleine
Zwischenspiele bei den legendären Bochumer Funkloch-Partys.
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